Das Werk nach dem Kriege

Die »Familie« (oder »Generationen«)

Dieses Bild, das 1918/19 entstand, leitete Eggers Spätwerk ein. Der Maler begriff es 1925 selbst als die gezogene Summe der Erfahrungen seines bisherigen Malerlebens. "... nach fast dreisigjährigem Schaffen und Suchen eine Wandlung in meiner 'Erfassung' des Bildes... , das Problem der reinen Form auf konsequenter Basis der Organischen Natur ..." (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 316). Mit diesem Werk, so Egger, habe sich bei ihm die " 'Wandlung' zum Stil vollzogen" (S. 318).

Thematisch griff der Maler auf bereits Behandeltes zurück, tauchte das Thema der Generationen z. B. bereits im »Leben« auf. Die einzelnen Lebensstufen und -situationen, die Egger in seinem Zyklus zur »Schöpfung« alleinstehend dargestellt hat (bzw. beabsichtigte), sind hier in einem Bild vereint. Säugling und Mutterschaft, das junge Mädchen, der Mann im besten Alter, das Greisenpaar und, vor allen stehend, Jesus am Kreuze als ein neues Bildelement, das für Eggers Spätwerk charakteristisch ist: Der Gekreuzigte, der wie ein Schutzschild für die Menschen in all ihren Lebensaltern wirkt, der in ihrem ganzen Leben präsent ist. Schicksalsergeben, introvertiert, fast entrückt wirken die Figuren, die in einer Ellipse angeordnet sind. Das Auge wandert von einer Person zur anderen, immer weiter und immer wieder - ein ewiger Kreislauf. Die Figuren sind jedoch nicht allein das Spiegelbild der Seele oder des Lebensgefühls des Malers, sondern sie sind auch das Produkt Eggers eingehender Beobachtung und Studiums seiner Modelle, der Menschen aus den Alpendörfern: "Religiosität im strengsten Sinne wendet das Empfinden für weltläufige und in diesem Sinne bestehende Ordnungen zu einer gewissen außerweltlichen Insichgekehrtheit. Daher oft das scheue Wesen der Bergbewohner dem Weltmanne gegenüber, was so durchwegs wie Mißtrauen, Verschloßenheit oder gar Beschränktheit genommen wird! Dieses Seelenleben baut sich nicht auf reale Erfahrungen auf, es bildet ein Leben für sich. Die moralische That als organische Notwendigkeit des menschlichen Seins, ohne Vergeltung ..." (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 426). Die »Generationen« erscheinen mit diesen Worten als die Sicht des Malers auf die besonderen religiös- moralischen Qualitäten der kleinen Bergbauern, deren "moralische That" aus ursprünglichem, tiefem inneren Bedürfnis herrührt und nicht aus dem Ablaßhandel des sich schuldig fühlenden Zivlisierten mit einer selbst geschaffenen moralischen Institution. %resultiert. Eine Thematisierung durch den Maler, die (nicht nur) angesichts der Zeitumstände verständlich ist. Zur Entstehungszeit des Bildes verstummten gerade die Schlachten des Ersten Weltkrieges, denen die entbehrungsreiche Nachkriegszeit folgte. Religiosität und seine Kunst hatten für Egger etwas mit Ursprünglichkeit zu tun. Kirchliche Interpretationen und Pfaffentum waren ihm fremd. "Das 'religiöse' läßt sich eben nur einmal erleben, das zweite ist schon 'Ableitung' und erst das 10te? Das Religiöse bewahrt mich allein vor Manier u. Decadenz" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 426). Egger Lienz war übrigens katholisch und blieb sein Leben lang seiner christlichen Gesinnung treu. Tritt das Kruzifix in früheren Bildern (»Kreuz« oder »Wallfahrer«) als Identifikationssymbol auf, ist die Figur Jesu in der »Familie« Zeichen für seine Allgegenwärtigkeit im Leben der Menschen. Die besondere Rolle des christlichen Glaubens bei den Alpenbewohnern ist ja bis in die heutige Zeit erhalten geblieben. Erstes Zeichen dafür ist für den aus dem Norden Herangereisten das »Grüß Gott!« anstelle des »Guten Tag!«. Daneben fallen die unzähligen gepflegten und liebevoll ausgestatteten Gotteshäuser dem Wanderer ins Auge. Auch im abgelegensten Ort ist noch ein Kirchlein oder eine Kapelle zu finden, die aktiv genutzt werden.

Läßt man bei den »Generationen« einmal den »großen Hintergrund«, das kunsthistorisch überlieferte Thema der Lebensalter oder -stufen außer acht und betrachtet das Bild als eine schlichte und warmherzige Aussage über die Menschen aus den Bergen, wird die lebenslange Hingezogenheit und Zuneigung des Künstlers zu seiner Herkunft deutlich. Die Heimat, die nun nach dem Krieg nicht mehr dieselbe ist. Im April 1918, also noch zu Kriegszeiten, beklagte der Maler die Trennung von Teilen seiner Heimat. Ein wehmutsvoller Blick führte ihn zu den Nordtiroler Alpen: "Die Ötztaler Berge, wohin es mich mit magischer Gewalt zieht, muß ich mir aus blauer Ferne von Zeit zu Zeit von Herrenkollern aus ansehen" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 736). Nach dem Krieg mußte Egger wegen der großen Probleme bei der Erlangung der Ausreise aus Italien bis 1921 warten, bis er wieder im geliebten Ötztal arbeiten konnte. Vor dem Krieg war der Maler mehrfach und völlig selbstverständlich quer durch Tirol gereist und nun lag plötzlich so mancher vertraute Ort im Ausland.

Die »Kriegsfrauen« und die »Generationen« sind für mich zwei unterschiedliche Reflexe des Malers auf die Zeitverhältnisse: Zum einen die Thematisierung einer wirren, durcheinandergeratenen Welt voller Verluste, zum anderen ein innerer Rückzug in Vertrautes, die Rückbesinnung auf »ewige« allgemeingültige Werte. Aber die Ruhe ist trügerisch, in eine scheinbar unberührbare »heile(?)« Welt brechen die Katastrophen der Realität herein. Die »Kriegsfrauen« entstanden nach den »Generationen«. Könnte man letzteres Bild auch als Ausweg in Ideale interpretieren, bilden die »Kriegsfrauen« eine konkrete Aussage über ein in der Nachkriegswelt real vorhandenes Problem (s. a. meine Erläuterungen). Der allegorische Gehalt der »Generationen« ist höher als in dem anderen Bild. Die Hinwendung zum bäuerlichen Milieu, zum Ursprünglichen, bot dem Maler einen wichtigen Rückhalt. "Das ist ja der 'Boden', ... der mich immer nährt und die Sicherheit gibt. Gerade dadurch ist es mir möglich, das tiefste, grösste u. lebendigste zu sagen" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 435). An dieser Stelle wird aber auch der Unterschied zur Genrehaftigkeit der überlieferten Bauernmalerei des 19. Jhd. deutlich: "Das Milieu ist nie hinderlich, universal zu sein, im Gegenteil" (ebenda). Egger formulierte also innerhalb seiner ihm vertrauten Welt des dörflichen Lebens verdichtete Aussagen über allgemeinere Menschheitsthemen. Nur über jenes so tief in ihm Verwurzelte konnte er über die Hintergründe menschlichen Daseins reflektieren.

Bezüglich der »Generationen« gibt es besonders viele schriftliche Äußerungen des Malers, da er dem Bild ja, wie vorhin zitiert, eine Schlüsselstellung zuordnete. An die Stelle eines beständigen Insistierens auf Monumentalität und monumentale Form finden sich Überlegungen zur Verarbeitung des Natureindrucks, Farbe, Licht.

Die Modelle studierte er alle einzeln und nicht im Gruppenverband, so daß die Figuren dann wieder wie in einem Baukastenspiel an die entsprechenden Stellen des Bildes reingesetzt wurden. Auch der ältere Egger wählte die Vorbilder so aus, daß sie dem nahe kamen, was bereits schon vor seinem geistigem Auge Gestalt angenommen hatte. "Nächstens nach Afing, wo ich das Urbild eines alten Weibes gesehn habe" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 316). Das Naturvorbild sollte nicht in seiner bloßen äußeren Erscheinung nachgeahmt werden, sondern als verdichtete Aussage über dessen Wesen im Bild wieder auferstehen. "In diesem Bilde ist besonders auf die formale Behandlung der Köpfe hinzuweisen, wie ihr organischer Bau im 'Ganzen' wie im Detail 'Symbol' geworden, die Naturform durch die Gestaltung aufgesogen u. verlebendigt (nicht stilisiert), zum Stil von Innen heraus wurde. Nicht im Sinne des bekannten irrtümlichen Ausspruches, daß 'Weglassen' Zeichnen sei, sondern im Geiste der Verdichtung. Denn Weglassen ist mit Leermachung identisch. Organisch 'bauen' scheidet schon in seinem Prinzip alles, was nicht dient, von selber aus" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 316). Hält man die Porträts der Modelle neben das große Bild, wird beispielhaft deutlich, wie Egger Lienz den eben beschriebenen Prozeß von der Erfassung der individuellen Gesichtszüge zur Reduktion auf die prägenden konstituierenden Merkmale vollzogen hat.

Das Bild hat einen kühleren zurückhaltenden Farbklang, dessen Notwendigkeit der Maler mit der Korrespondenz zur Bildidee begründete und eine Betonung des Eigenwertes der Farbe ablehnte: "Denn ich betrachte die Farbe nicht als Faktor für sich, sondern werte sie ganz harmoniegesetzlich als Gegenspiel zur Bildide. So möchte ich mein Bild ... gerade als koleristische Leistung betrachten, trotz seiner in's Auge springenden scheinbaren Farblosigkeit ... Auch alte Künstler verfuhren so, z. B. Mantegna (Padua)" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 316). So nahtlos sich die Farbigkeit in die Bildharmonie einfügt, die Bildeinheit stützt, so läßt sich ihr abwechslungs- und nuancenreiches Farbspiel im Detail beobachten. Ich vermute, daß es sich bei dem Verweis auf Mantegna um dessen Fresken (1457) in der Eremitani- Kirche zu Padua handelt, die 1944 einem Bombenangriff zum Opfer gefallen ist. Die verhaltene Farbigkeit der sich heute in einem traurigen Zustand befindenden Wandmalereien, das hochsensible Zusammenspiel jeweils eines warmen und kalten Farbtons, wird auf Eggers Bild Einfluß genommen haben.

Die Sanftheit des Farbeindrucks entspricht also der Stille der Bildwelt in den »Generationen«. Zu den raffinierten Farbvaleurs gesellt sich ein Licht- Schattenspiel. Egger bemerkte 1923, daß in diesem Bild zu seinem Bestreben nach der "großen Form" ein "Cultivieren des Malerischen" hinzutrat, sei es doch seine "wahre Veranlagung". Der Maler datierte diese Erneuerung in die Zeit, in der er die »Alten« abgeschlossen hatte, d. h. ca. 1914. Wenn er von einer "wahren Veranlagung" sprach, schloß dies auch das Infragestellen und kritische Distanz zu seinen linearen Monumentalgemälden der mittleren Schaffenszeit ein. Dieses "Malerische" bezeichnete Egger Lienz als "Licht", das das erste Mal nun in den »Generationen« auftaucht. Es ist jedoch kein Licht im impressionistischen Sinne, sondern eher ein geheimnisvolles Leuchten von innen heraus, mit Worten Kirschls "ein verdecktes Strahlen aus der Bildtiefe". Dieses neue Element sollte nicht das Erlangen der "großen Form" behindern, denn nur die "Technik" ist anders, jedoch nicht die "Tendenz", das "Streben nach Größe der Form", die Entwicklung zum "neuen Stil", die sich schrittweise beim Künstler vollziehen muß: "Entweder es entsteht ein Stil aus der inneren Not, des empfangenen Eindrucks Herr zu werden, und das kann ein Menschenalter dauern, oder er wird schon als etwas fertiges übernommen, mit Zugabe einer persönlichen Note, wie dies fast durchwegs in der Renaissance geschah. Ein neuer Stil aber wird ohne etappenmäßige Entwicklung nicht entstehen, denn was da als Stil sich gibt, ist nur ein 'Schema' ohne Leben, ohne Blut" (Egger Lienz 1923, zit. nach Kirschl, S. 400).

Obwohl die räumliche Konstruktion mit vier Horizontpunkten viel komplizierter ist als in den »Kriegsfrauen«, wirkt die Räumlichkeit »richtiger«, unauffälliger »falsch« als im zuletzt genannten Bild, in dem der Maler die extreme Raumverzerrung mit weniger Fluchtpunkten realisierte. An dieser Stelle erinnere ich noch einmal an Eggers Kritik an der Darstellung des Sitzens in den »Lebensmüden« nur fünf Jahre vor der Arbeit an den »Generationen«.

Die Figuren sind so in das Bild eingepaßt, wie es der Bildorganismus erfordert, auch wenn es real- sachlicher Erklärbarkeit zuwiderläuft. Das Greisenpaar beispielsweise sitzt so da, wie es im Bezug zum Umfeld gar nicht »gehen« könnte. Ohne jegliche Genrehaftigkeit ist das bäuerliche Milieu ablesbar. Boden und Decke sind aus Holzbohlen. Die Kleidung ist herkunftsgemäß, ebenso Beiwerk wie Hut oder Arbeitgerät. Wenn jedoch der Maler die Bildstruktur gefährdet sah, wurden realistische »Erfordernisse« beiseite gelassen. So haben Tisch und Bank hinten links keine Beine und schweben im Raum - ein Merkmal, das jetzt öfters in Eggers Bildern auftritt. Auch die Darstellung der Figur Christi erfolgte so zurückgenommen, daß der ruhige erhabene Gesamtcharakter des Bildes nicht gestört wird.

An voriger Stelle habe ich auf die zweigleisige stilistische Entwicklung Eggers verwiesen. In diesem Bild haben sich diese zwei Linien, die des Monumentalstils und die der räumlich- atmosphärischen, malerisch freieren Auffassung zu einer wirkungsvollen Synthese gefunden. Umrißlinie und Farbe, Raum und Fläche, Bewegung und Statik sind nun gleichermaßen bedeutsam. Eggers Anliegen war es, all diese Bildelemente zu vereinigen, ohne welche zu vernachlässigen. All dies geschah, und da blieb sich Egger Lienz zeitlebens treu, im Dienste des »Stoffes«. Seine Hauptkritik an zeitgenössischer Kunst (Expressionismus, Kubismus, Futurismus) war die Überbetonung des »Wie«, d. h., der formalen und kunstsprachlichen Möglichkeiten. Zu einer Bildinterpretation seiner »Generationen« schrieb der Maler 1923: "Daß dem religiössittlichen meiner Bilder einmal eine so eingehende Würdigung zu teil wurde, ist wichtig, umsomehr, als man das Gehaltliche in der bildenden Kunst nur mehr im 'Technischen' zu suchen gewöhnt ist oder in der Arabeschke, dem Ornament. Dem Schlagwort: 'Die Kunst der Kunst wegen' ist damit eine ewige Wahrheit endgegengehalten ..." (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 318). Trotz dieser Aussage: die Arabeske (Flächendekoration mittels eines komplizierten, pflanzliche Formen nachahmenden Liniengeflechts: Bögen, Ranken usw.) spielt nicht nur in den »Generationen« als Methode formaler Verknüpfung eine große Rolle. Bereits in den »Namenlosen« hat der Maler das Kunstmittel der ornamentalen Verflechtung eingesetzt. In dieser Hinsicht gibt es übrigens einen weiteren Berührungspunkt mit Hodler, der zur ornamentalen Verfremdung der Bildgegenstände äußerte: "Man gesteht dem Umriß seine schöne Rolle heute willig zu, und dadurch wird er in der Tat ornamental. Man kann sagen, daß die dekorative Kunst mehr und mehr den Charakter des Ornaments annimmt" (Hodler, S. 15).

»Die Kriegsfrauen«

Dieses Bild erwähne ich, um den Höhepunkt an Expressivität und Raumverzerrung im Bildwerk Eggers zu dokumentieren. Interessanterweise lag der Arbeitsbeginn zeitgleich mit den »Generationen«. Die Gegensätzlichkeit beider Bilder ist faszinierend. Der Ausruf »Die Welt ist aus den Fugen!« kommt mir bei der Betrachtung der »Kriegsfrauen« immer wieder in den Sinn. Das Bild ist eines der ersten, das Eggers Darstellungen der Schlacht- und Leichenfelder des Krieges folgte. In einem Brief umschrieb er die »Kriegsfrauen« als "spinnende Frauen im Hinterlande". Resignation, Verzweiflung und Trauer strahlen die verlassenen Frauen aus, deren Männer und Söhne in den Krieg gezogen sind und auf deren Schultern die Last des wirtschaftlichen Überlebenskampfes liegt. Aber die Hände, die den Faden ziehen sollten, sind leer. So wandelt sich die Arbeitsbewegung der Arme und Hände zu einer sinnentleerten klagenden Geste voller Hoffnungslosigkeit. Hinzu tritt ein entsprechender Ausdruck der fast zu einer tragischen Maske erstarrten Gesichter.

Die Ernährungssituation stellte ein gewaltiges Problem in der Nachkriegszeit dar. Vielfach gab es Hungerunruhen. In Innsbruck rebellierte im Juli 1919 die Bevölkerung gegen eine Amnestie für Bauern, die während des Krieges versucht hatten, mit der Not ihr Geschäft zu machen und dafür verurteilt worden waren. Desweiteren suchte sich im November des gleichen Jahres die Volkswut auf Schwarzhändler und Schieber in Plünderungen und Hungerdemonstrationen ihr Ventil.

Zu diesem Gemälde gab es kaum Äußerungen des Malers. Er erwähnte erst 1920 in einem Brief das Bild, aber auch nur, daß er, neben anderen Werken, gerade daran arbeitete.

In den »Kriegsfrauen« strahlt die Raumdarstellung in ihrer beunruhigenden Verzerrung und Verzogenheit (jedoch mit nur zwei Horizonten) Irrealität aus, wozu der Gegensatz Figuren - hinterer Raumabschluß mit beiträgt. Die Unmöglichkeit der Figuren, sich aufzurichten, verleiht dem Raumgefüge einen erdrückenden Charakter. Die Frauen sind wie eingesperrt und in größter Bedrängnis.

Mit diesem Werk setzte Egger Lienz sein in den »Alten« entwickeltes Raumkonzept mit aller Entschiedenheit fort. Während der Arbeit am Bild schrieb der Maler: "Ich muß jetzt nur noch 'härten' und wieder 'schweißen' ". Dieses »Härten« wird daran deutlich, daß alle Bildelemente radikal einem einzigen konsequenten Formenkanon unterworfen und in radikaler Vereinfachung geometrischen Gebilden angenähert sind. Die Deformierung der Figuren entspricht der der Umgebung. Die Symmetrie der Figurenanordnung wird durch die am Fenster hineinguckende Frau unterbrochen. Die Körperschatten erscheinen als eigenständige, flächengliedernde abstrahierte Formen, die Spinnräder als geometrische formelhafte Gebilde.

Auch zu diesem Bild existieren vor der Realität beobachtete Studien zu Figuren und Interieur. In einer präzisen, schlichten und wirkungsvollen Zeichnung studierte der Maler das Arbeitsgerät, die Spinnmaschine. Im Zusammenhang mit der Multiperspektivität und der förmlichen Bedrängung der Figuren durch den Raum war der Künstler mit seinen »Kriegsfrauen« den Werken von Max Beckmann »Der Traum« (1921) und »Die Nacht« (1918/19) nahe. Egger Lienz zeigte sein Bild auf der 8. Kunstausstellung in Venedig 1922.

»Kalvarienberg« - Probleme der Rezeption in Italien

Der »Kalvarienberg«, ein Bild, das zusammen mit anderen Studien und Gemälden von Landschaften des Etschtals entstand, fällt innerhalb des Werkes des Künstlers durch seine klassische Ruhe und Zurückgenommenheit besonders auf. Carlo Carà sah in dem Werk sogar eines der besten Bilder Eggers.

Der Bildtitel spielt auf die Passion Christi an, bzw. deren plastische Nachstellung auf einem Berg. Die jahrhundertealte Tradition des Kalvarienberges war wie die Wallfahrt ein Ausdruck von Volksfrömmigkeit und hatte den Zweck, die Leidensgeschichte in ihren einzelnen Stationen (z. B. Kreuztragung ... Begegnung mit der Mutter ... Veronika reicht das Schweißtuch ... u. s. w.), die sich meist in kleinen Kapellen befanden, bis hin zur Kreuzigung auf dem Gipfel nacherlebbar zu machen. Der gezeigte Landschaftsausschnitt war in der Realität so nicht zu sehen, sondern der Maler hat die Sicht von zwei Standpunkten aus kombiniert. Nach Kirschl stand er beim Blick auf die Haselburg und auf die Treppstufen zum Kreuzeshügel links neben der Kalvarienbergkirche, wobei die rechte Bildhälfte vom Kirchengebäude verdeckt wurde. Übrigens ist die Landschaft heutzutage nicht mehr so herrlich unberührt. Mit der Entwicklung des Bozener Industriegebietes verschwand die Idylle und an deren Stelle erstrecken sich nun Fabrikgelände und Wohnsilos.

Weisen die gleichzeitig entstandenen Studien einen kraftvollen Pinselduktus auf, kehrt in den »Kalvarienberg« Stille ein. Die malerische Handschrift des Künstlers ist zugunsten eines verhaltenen Farbauftrags zurückgenommen. Die gleichsam erstarrte ruhende Landschaft gliedert sich in Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Der Blick auf die große Weite, die im Dunst der Atmosphäre verschwinden würde, ist jedoch durch entfernte Höhenzüge versperrt, das Raumende also klar definiert. "Mich drängte es immer zum Raume, das heise ich zum 'erfassen' eines Ganzen, eines begränzten, runden ... dies eindrucksvoll zu zeigen, liegt in der Hand des Malers. Auch in der Landschaft glaube ich da auf der rechten Spur zu sein, weil sie eigendlich an sichtbarsten die Mittel bietet. Im Raume bewege sich der Mensch" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 352). Im Vergleich zu seinen früheren Bergbildern ist die nun dargestellte Weite der Landschaft wesentlich größer, was natürlich im - bewußt gewählten - Motiv liegt: der Blick in ein weitläufiges Tal. Die Raumtiefe wird durch die Farbigkeit suggeriert, so der Blauton der fernen Berge, der warmfarbige Vorder- und Mittelgrund. Im Gegensatz zur formauflösenden Tendenz bei den Impressionisten ist im »Kalvarienberg« eine prägnante Formensprache zu beobachten. Klar umrissene, fast abstrakte Flächen bauen hier rhythmisch Eggers Landschaft auf. Egger Lienz sah im Impressionismus den "Anfang der Abkehr (von) der bauenden Form. Erst wenn wir wieder zur strengen Durchbildung der organischen Formen zurückkehren, ist wieder eine den Klasikern ebenbürtige Kunst möglich, welche Jahrhunderte überdauern, ja ewig sein wird." Gegen Ende des ersten Jahrzehnts formulierte der Maler seine Vorstellungen vom Begriff des Klassischen: "Je mehr einer in sein Werk Konsequenz hineinhämmern kann, desto klasischer, voller ist es" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 354). Mit der klassischen Ruhe dieses Bildes war Egger Lienz Künstlern seiner Zeit verbunden, die ihre Kriegstraumatisierung mittels Überschaubarkeit, Klarheit, Formenstrenge und Rationalität in ihren Bildern zu verarbeiten suchten. Diese zeitgenössischen Strömungen gegenständlicher Malerei, die Rede ist von pittura metafisica und magischem Realismus, erschienen aber auch als geistig verwandte Reaktionen auf Kubismus, Futurismus und Expressionismus: ein, mit den Worten von Franz Roh (1925), "Umschwung aus rasendem Sturme zur unheimlichen Windstille, jene merkwürdigste Umkehr der gesamten neueren Geistesgeschichte" (zit. nach Koch, S. 29). Chirico erklärte seine Kunst zur Antithese gegenüber sämtlichen formauflösenden Tendenzen seit dem Impressionismus. Der Futurismus sei, so der Maler, genauso überflüssig wie der Krieg gewesen. Carlà, nebem de Chirico Autor der Römischen Zeitschrift »Valori Plastici«, jenem Kulturorgan, das in der damaligen europäischen Kunstpublizistik bedeutendes Gewicht hatte, schrieb drei Artikel über Egger Lienz in verschiedenen Zeitungen. Die Tatsache, daß der Tiroler noch 1924 in einer Anschrift Carlà als »Redakteur« bezeichnete, ohne vermutlich zu wissen, daß der »Redakteur« auch der Maler war, der neben ihm in der 8. Internationalen Kunstausstellung in Venedig (1922) ausgestellt hatte, läßt mich zweifeln, daß sich Egger eingehend mit der pittura metafisica beschäftigt hat. Zum »Kalvarienberg« äußerte sich Carà positiv, entfalte doch dieses Bild "Wirklichkeit und Phantasie", wobei Egger Lienz "niemals einem kleinlichen Realismus" verfiele.

Die Beurteilung Eggers in Italien hatte jedoch auch einen schmerzhaften Haken: "Den Philister wird seine rauhe, holzige, breite und vierschrötige Kunst sicher nicht anlocken ... Wir nehmen die rauhen Äußerlichkeiten dieses Gebirglers gern in Kauf für seinen Ernst und für seine Keuschheit, für seine Verinnerlichung in eine vom Gemeinen abgesonderte Welt" (zit. nach Kirschl, S. 666). Das »Lob« im zweiten Teil des Zitats wird verständlich, betrachtet man Caràs Forderungen an die neue Kunstrichtung, die er in einem anderen Zusammenhang dargelegt hatte: die Neubewertung des Alltäglichen als Motiv einer metaphysischen Bildvorstellung; das Aufgreifen gewöhnlicher Dinge, die "jene Form der Einfachheit enthüllen, die uns einen höheren Seinszustand erkennen lassen, der die ganze geheime Pracht der Kunst bildet" (Carlà, zit. nach Koch, S. 29). Wenn Chirico 1919 in seinem Aufsatz »Die Rückehr zum Handwerk« die Rückbesinnung auf die "Prinzipien und Lehrsätze unserer großen alten Meister" (ebenda) Giotto, Raffael, Poussin oder Ingre, sowie die Neubelebung klassischer Akademietraditionen, wie z. B. das Zeichen nach antiken Gipsabgüssen, forderte, erklärt dies, wieso Egger mit seiner Formensprache, die auch Verzerrungen und Deformationen einschließt, bei den Italienern nicht auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen konnte. Für den »Kalvarienberg«, eines der verhaltensten, stillsten Schöpfungen des Tirolers, sowie für seine Stilleben und anderen Landschaftsdarstellungen am Beginn der 20er Jahre begeisterte sich das italienische Publikum, entsprachen diese Bilder am ehesten lateinischem Kunstgefühl. Oder, wie Henry van de Velde 1918 sinngemäß formulierte: »das lateinische Genie lächelt über die Schwierigkeiten und überwindet sie spielend« "Schließlich hätten wir wohl auch etwas gegen eine gewisse Schwere in den Schatten und das Bleierne in den Lichtern einzuwenden - aber dies mag wohl in der gotischen Tradition liegen, ebenso der Umstand, daß er so viele verschrobene und ungeheuerliche Gesichter malt" (Carlà, zit. nach Kirschl, S. 667). Bei aller Achtung, die Egger von der italienischen Kunstkritik zuteil wurde, es gab sogar Vergleiche mit Michelangelo, haftete dem Tiroler stets der Makel an, nicht früh genug Zugang zur lateinischen Kunst gehabt zu haben. Tatsächlich hat Egger Lienz erst 1921 das erste Mal in seinem Leben, also 53-jährig, Rom, Florenz, und die Campagna- Landschaft gesehen. Salopp gesprochen, man war der Meinung, hätte sich der rauhe Gesell aus den Bergen am Vorbild der italienischen Tradition gezähmt, hätte ein richtig »großer« Meister aus ihm werden können. So ließ ein Rezensent zur Ausstellung in Venedig 1922, auf der der »Kalvarienberg« zu sehen war, vernehmen: "so tut es uns leid, daß ein so künstlerisches Talent nicht im Dienste lateinischer Intelligenz und Phantasie stehet. Denn dann könnten vielleicht wahre Meisterwerke entstehen" (nach Kirschl, S. 666). Die ganz spezifisch- künstlerische Eigenart Eggers, die seinen Bilder jene Aussagekraft verleiht, diese Qualität wird als aus mangelnder kunsthistorischer Bildung resultierender Makel betrachtet. Daß diese »rauhe« Formensprache ein bewußt eingesetztes, gewolltes künstlerisches Mittel war, mit dem der Maler eine von Zerrissenheit, Krisen und Elend geprägte Welt reflektierte, wurde nicht anerkannt, nicht gewürdigt. Bei so mancher Kritik, oft sogar überschwenglicher Natur, ging die Interpretation völlig an den Intentionen des Malers vorbei. So wurde er als »sozialer Ankläger«, als »ein tüchtiger Darsteller von hungernden Tirolern« (nach Kirschl, S. 382) beschrieben. Es ist auch daher nicht verwunderlich, daß Eggers Sehnsucht, ebenso Deutschland und Österreich mit seinen Bildern zu erreichen, nie erlosch.

Egger Lienz hatte bereits Anfang 1919 Kontakte mit Giorgio Nicodemi, der den Vertreter der pittori di paesi nemici (Maler feindlicher Länder) in Italien bekannt zu machen begann. Nicodemi war Kunsthistoriker und Direktor des Museums und der Bibliothek von Brescia, sowie Beauftragter für Kunstangelegenheiten der neuen Territorien, die Italien nach dem Kriege hinzugewonnen hatte. Desweiteren setzte sich der einflußreiche Florentiner Kunstkritiker Ugo Ojetti für die Popularität Eggers in Italien ein. Den eigentlichen Durchbruch erlebte der Maler auf der schon erwähnten großen Venediger Ausstellung 1922. Es hingen 33 Bilder, vom Frühwerk bis zu den letzten Arbeiten: »Kreuz«, »Haspinger«, »Generationen«, »Kriegsfrauen«, »Kalvarienberg«, weitere Landschaften u. a. . In der Venediger Presse wird der persönliche Empfang des urwüchsigen »tüchtigen Maler aus Hochetsch« durch den König Viktor Emanuel III. beschrieben: "Egger Lienz hat bei dieser Gelegenheit die hohen Strümpfe und die Bergschuhe, die er gewöhnlich trägt, abgelegt ... der König spricht ihn höflich auf Deutsch an ... er wird vom König, der ihm die Hand reicht, beglückwünscht" (nach Kirschl, S. 382).

In Deutschland Fuß zu fassen, gestaltete sich aufgrund der Nachkriegslage schwierig. Zwar wurde Egger Lienz 1922 von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München zum Ehrenmitglied ernannt, Ausstellungsprojekten standen jedoch die enormen (Transport-) Kosten im Wege. Nach seiner letzten Ausstellung 1918 in München waren Eggers Gemälde erst wieder 1925 in Deutschland zu sehen. Wenige Monate vor Eggers Tod war in Stuttgart und München das Spätwerk ausgestellt, worauf große Repräsentationen in anderen deutschen Städten folgten.

»Pietà« - Eggers letzte Zeit

Mit diesem letzten vollendeten Gemälde Eggers aus dem Jahre 1926 möchte ich meine Bilderauswahl beschließen. Im gleichen Jahr entstand vorher das Bild »Der tote Christus«, das nur den Toten in derselben Haltung wie in der »Pietà« zeigt - jener etwas respektlose Blick auf den Leichnam Christi von den Fußsohlen aus, der an Mantegnas eigentümliches Bild von ca. 1480 erinnert.

Die Darstellung der Marienklage hat u. a. auch in Tirol Tradition. Bereits aus der ersten Hälfte des 14. Jhd. existieren Überlieferungen: die trauernde Mutter Maria, die um den toten Sohn auf ihrem Schoß trauert, als Verkörperung des Mutterschmerzes. Ursprünglich hieß Eggers Bild »Frauen am Leichnam Christi«. Die menschliche Grundsituation: Trauer, Verlust, Abschiednehmen scheint den Maler hier bewegt zu haben. Ruhe ist in Eggers Bildwelt eingezogen, die Frauen wirken gefaßt, wie in Meditation entrückt. Egger beschrieb das Lebensgefühl, aus dem seine letzten Werke erwuchsen, mit "zuständliche Versunkenheit" und "außerweltliche Insichgekehrtheit" (nach Kirschl, S. 488). Stand der Maler stets in regem Briefwechsel, entwickelte er nun ein hohes Maß an Introvertiertheit. Er verfiel in Einsamkeit. Seine langjährige Freundschaft mit dem Schriftsteller Otto Kunz war zerbrochen und damit ein wichtiger Bezugspunkt verschwunden. Dazu gesellten sich seit April 1926 zunehmende gesundheitliche Probleme. Diese Fakten lassen Eggers Formulierung besser verstehen.

Kompositorisch weicht Eggers »Pietà« von der ursprünglichen Überlieferung ab, die die schmerzerfüllte Mutter zeigt, wie sie den Sohn diagonal oder abgewinkelt auf ihrem Schoß hält. Um 1400 änderte sich die Bildaussage: Der Schmerz wich gefaßter Trauer, mit der Maria den Gläubigen Jesus als ihren Erlöser präsentiert. Bei Egger Lienz sind nun drei Frauen anstelle Marias um den Toten versammelt. Frontalität und Symmetrie dominieren den Bildaufbau, die durch den besonderen perspektivischen Blick auf Christus und das nochmalige Auftauchen des Kopfes der rechten Hintergrundfigur am rechten vorderen Bildrand abgemildert werden. Beinhaltet die ikonographische Tradition der Pietà die Darstellung der fünf Wunden Christi, die von den Gläubigen wahrgenommen und verehrt werden sollten, verzichtete Egger Lienz auf Stigmata. Die Szene spielt sich in bäuerlichem Milieu ab und geht über eine religiös motivierte Inhaltlichkeit hinaus. Die zwingende Schlichtheit der Komposition, der stille, beinahe kontemplative Stimmungsgehalt dieses Bildes steht im harten Konstrast zur der extremen Deformation und Expressivität der »Kriegsfrauen« nur wenige Jahre zuvor.

Als Egger kurz vor seinem Tod von einem befreundeten Maler nach der Arbeit gefragt wird, ist des Tirolers Antwort: "Ich bin fertig". Diese Worte künden von Müdigkeit, Erschöpfung und vielleicht Resignation, jedoch auch von Zufriedenheit, der Welt ein abgeschlossenes Lebenswerk zu hinterlassen. Möglicherweise spürte der nun ernsthaft kranke Künstler auch, daß er am Ende des »ganzen Kreißlaufs« angelangt war. In seiner letzten Zeit erlebte der Maler ein Wechselbad an Huldigung und Ablehnung. Er bekam kurz nach der Einweihung des von ihm freskierten Kriegerdenkmals zu Lienz2 die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt verliehen. Gleichzeitig gab es starken Widerstand seitens der Geistlichkeit gegen die Darstellung des Auferstehenden, wie sie Egger Lienz in der Kapelle realisiert hatte, was schließlich zu einem Interdikt (Verbot der Nutzung als Kirche, d. h. keine Gottesdienste u. ä.) durch Rom führte. Gleichzeitig gab es mehrere Retrospektiven Eggers Bilder im österreichisch- süddeutschen Raum. Die umfangreichste Ausstellung zu Lebzeiten des Malers fand mit 78 Werken 1925 im Wiener Künstlerhaus statt. Der österreichische Unterrichtsminister Schneider regte eine Professur an der Wiener Akademie an, was jedoch durch Widerstände des dortigen Kollegiums und schließlich durch die schwere Krankheit des Malers verhindert wurde. Infolge einer fortgeschrittenen Arteriosklerose kam es zu zeitweiligen Erblindungen. Ein Leberleiden erschwerte zusätzlich den Alltag des Malers, der leiblichen Genüssen immer sehr zugetan war. Am 4. November 1926 starb Egger Lienz.


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