Eggers spätes Raumkonzept

Mit den »Alten« (1914) setzte Egger Lienz das erste Mal das Prinzip der Multiperspektivität im »großen« Bild ein, das nun all seine künftigen Monumentalwerke prägen wird. Auf einer scheinbar ansteigenden Fläche sind die Figuren in höchster Schaubarkeit angeordnet. Der Maler komponierte in verschiedenen Raumschichten. Damit verwarf er radikal die jahrhundertealte traditionelle Raumperspektive, an deren Stelle eine, mit Worten Kirschls, unwirkliche »gleichnishafte Räumlichkeit« tritt. Angewohnheiten aus seiner mittleren Zeit wie die Seiten- und Frontalansicht der Figuren und höchstens geringfügige Überschneidungen behielt er bei. Eggers Vorgehen erinnert an Cezannes Werk der 80-er Jahre des 19. Jhd. und an die analytischen Kubisten des ersten Jahrzehnts des 20. Jhd. . Egger Lienz bediente sich der Methoden dieser Künstler, wobei sein Interesse dem "gestalterischen Baumaterial galt, den Techniken formaler Verflechtung oder dem, was Delacroix bereits die 'Organisation der Analogien' " genannt hat (Kirschl, S. 260). An dieser Stelle sei aber auch erwähnt, daß vor der Einführung der Linearperspektive im Quattrocento (z. B. Masaccios Fresko »Die Dreifaltigkeit« 1426-28) in der europäischen Malerei öfters die Kombination mehrerer Blickwinkel anzutreffen ist.

»Die Alten«

Der Konsequenz seines Schrittes war sich Egger Lienz bewußt. »Die Alten« ließen sein "letztes Formproblem erwachen" (Egger). Das Gemälde gehört zu einem geplanten Zyklus »Die Schöpfung«, in dem Grundsituationen menschlichen Daseins, diese »elementaren Lebensgesichte« den einzelnen Jahres- bzw Tageszeiten zugeordnet werden - eine Anlehnung an eine beliebte Tradition der Romantik. »Die Alten« korrespondieren mit dem Abend bzw. dem Winter. In Eggers brieflichen Äußerungen tauchen beide Bezeichnungen auf.

Die erste Idee zum Zyklus, als dessen Abschluß »die Alten» erscheinen, hatte Egger Lienz bereits 1912 anläßlich einer Sonnenfinsternis: "dieser Vorgang da oben ermahnte in seiner Außergewöhnlichkeit an den großen unerbittlichen Gang aller Dinge." Der "ganze Kreißlauf" sollte "Die Liebe (Zeugung), die Mütter, die Kinder, den Kampf, die Reue und Erkenntniß(, die) Stille der Tat, und den Allschöpfer selbst (einschließen), Grundakorde (elementare Lebensgesichte)... , welche meine Seele ergreifen und an welchen sich mein Gestaltungsdrang befriedigen kann" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 230).

In einem 1913-14 konzipierten Entwurf zur »Zeugung« kündigte sich Eggers neues Raumkonzept an, sowie auch schon 1910 im Zweitentwurf zum »Leben«. Der »Zeugungs«- Entwurf ist außerdem ein weiteres Beispiel dafür, wie Vorgeformtes aus früherer Zeit in späteren Werken wieder auftaucht. Die stark verkürzt dargestellte, liegende Figur erscheint nochmal in Eggers letztem ausgeführten Gemälde »Pietà«. Die Haltung des Greises, bereits 1910 zu beobachten, sowie der alptraumhafte, bedrängende Charakter der Räumlichkeit wurden in die »Alten« übernommen. Der Sitzende in der »Zeugung« könnte sich gar nicht aufrichten und ist förmlich zwischen Holzbohlen eingeklemmt. Die Größenverhältnisse der Figuren untereinander entsprechen nun nicht mehr tiefenräumlichen Verhältnissen. Die Rückseite der Leinwand, auf der der Entwurf realisiert wurde, diente übrigens 1918 zur Bildentwicklung der »Generationen«. Aus einer Vielzahl Studien und Entwürfen entstanden lediglich zwei von fünf geplanten Zyklusbildern, darunter »Die Alten«.

Angesichts des nun entwickelten Raumkonzepts ist die Kritik Eggers an Hodlers »Lebensmüden« im Januar 1913 interessant, zeigt sie doch, daß bei Egger Lienz verbale Äußerung und praktisches Handeln keineswegs eine Einheit bilden mußten: "Die lange Bank, auf welcher die 8 od. mehr langweiligen Greise sitzen, ist derart zu den Figuren gestellt, daß sie unmöglich drauf sitzen können, dadurch kommt so etwas primitives, naives, urwüchsiges interesantes hinein. Das ist ein Kniff, der auch im futuristischen Programm liegt, dort aber zur äussersten Konsequenz wird. Dort muß alles falsch sein. Ist doch die Verkehrtheit in allem Leben immer das ansteckendere und aufreizendere gewesen als das natürliche" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 721). Solch ein Ausmaß an "futuristischer Verkehrtheit" in Eggers nun folgendem Werk hat sich Hodler nie geleistet. Der Schweizer bezeichnete Picasso als "drolligen Schwärmer", den Kubismus als "Theorie sonder Sinn und Geist" und deren "kubistische schaffen(de)" Vertreter als "Dummköpfe" (Hodler, zit. nach Kirschl, S. 723). Wahrscheinlich verrät Eggers Polemik sogar uneingestandenes gewecktes Interesse. Zu Hodlers »Lebensmüden« (nach 1892), das die Greise in weißen Gewändern zeigt, entstand auch ein Pendant in schwarz, die »Enttäuschten Seelen«. Hodler wollte in seinen beiden Bildern die Gemeinsamkeit der Gefühlsregung und der Situation der Greise schildern, wobei die Männer im schwarzen Kleid Resigniertheit, Bedrücktheit, Trauer und auch Angst empfinden, während die Herren in Weiß ergeben dem Tod entgegen blicken.

Eggers Worte zum Endpunkt des »ganzen Kreißlaufs«, 1915 im Schatten des Ersten Weltkrieges formuliert, klingen düster: " 'Das Sterben' oder 'Absterben'. Motiv Siechenhaus. Winter. Aller Zusammenhang mit der Welt ist aufgelöst, daher die Abkehr jedes Einzelnen von den anderen. Jeder fällt in sich zusammen. Modergeruch, Totenkammerluft. Das Bild ist gelblich, bläulich fahl in der Farbe. Der Tod wartet --- durch das viele Holz wird der Sarggedanke verarbeitet" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 256). Sicher ist es kein Zufall, daß sich Egger Lienz zu dieser Zeit gerade dem dunklen Abschnitt der »Schöpfung« zuwendet. Auch in überlieferten Äußerungen von 1914, der Zeit "grauenhaftesten Menschenelends", und im Bildgehalt des anderen Zyklusbildes »Der Mittag« aus dem gleichen Jahr, dominiert ein Moll-Akkord: "Wie Tiere sind sie auf der Erde zerstreut - und an die Erde gebunden. - Alle müssen sich mühen, - und unser Leben ist am Ende doch lauter Mühsal und Schmerz" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 245).

Anregungen zu seinen Vorarbeiten bezog Egger Lienz direkt aus dem Altmännerhaus, dem "vor dem Sarge stillsten Ort". Es gab drei Entwürfe, in denen sich schrittweise die hohe Expressivität und Klarheit der formalen Entscheidungen, sowie das zwingende Bildgefüge herausschälte. Der erste Entwurf erinnert mich in der Frontalität und Bildparallelität der hinteren Figurengruppe und in dem Prinzip der Reihung an Hodlers eben erwähntes Bild, bzw. an Eggers Frieskompositionen der mittleren Zeit. Die dunkle Kleidung, die Hüte, das Holz und das karge Interieur vermitteln den Eindruck bäuerlichen Milieus. Die perspektivische Darstellung des Fußbodens, der wie eine hochgeklappte Fläche erscheint, kontrastiert mit der Figurenansicht, jedoch stimmt die Neigung der Kanten des Sitzmobilars mit der des Bodens überein. Die Greise sitzen dicht gedrängt beieinander und überschneiden sich. Ihre Körperhaltung entspricht der Realitätserfahrung: wie immer erfolgten auch vor den »Alten« diverse Modellstudien. Im ausgeführten Kasein- Gemälde sitzen die Männer alle vereinzelt in der gleichen zusammengesunkenen Haltung. Die Arme hängen kraftlos herunter, wie »gebrochene Schwingen«. Im Vergleich zum ersten Entwurf ist sichtbar, wie der Maler die Figuren wie einzelne Steinchen in einem Baukasten umsortierte, ersetzte oder herausnahm. So ist die rechts vorne sitzende Person im fertigen Bild in die hintere Mitte gewandert. Anstelle der sechsten Figur tritt ein Skelett, das die Haltungen des linken und rechten Mannes aus dem Entwurf vereint. Egger Lienz hat die Bewegungsrichtungen und das Äußere der Figuren auf einen Grundakkord reduziert. Das bäuerliche Milieu ist zurückgenommen worden, die einheitliche Kleidung der Figuren zeitlos - unspezifisch (ob die Rot- Weiß Kombination, die an die Farben der österreichischen und Tiroler Flagge erinnert, zufällig gewählt wurde, weiß ich nicht. Es gibt keinerlei diesbezügliche Äußerungen). Die Vertikalität der Arme verleiht dem Bild seinen Rhythmus, sowie gesteigerte Ausdruckskraft durch die ständige Wiederkehr einer Geste der Kraftlosigkeit und Gebrochenheit. Zur vertikalen Grundstruktur kommen die Bewegungsrichtungen der Bänke hinzu. Die erste und dritte Bank bilden dabei fast Orthogonalen zum Boden, während zweite und vierte Bank schräg gestellt sind. Am meisten weicht der aufgeklappte Sarg von der Grundrichtung ab. Die Kanten des Erdmöbels verlaufen parallel zur Sitzbank der hintersten Figur und umschreiben mit die elliptoide Form, in der die Figuren angeordnet sind. Im Vergleich zum Erstentwurf fehlt die Rückwand, die Dielen werden am oberen Bildrand abgeschnitten. Der Boden steigt extrem an. Das Bild besitzt mehrere Horizonte und Fluchtpunkte, die Seitenkanten der Bank mit dem Skelett laufen sogar nach hinten auseinander. Ursprünglich war im ausgeführten Bild die Figur rechts hinten vollständig dargestellt. Egger Lienz übermalte die Hände des Mannes, die vorher auf die Schultern der rechten Vordergrundfigur stießen. Es hatte durch die Überbetonung der rechten Seite die Bildrhythmik gestört. Außerdem unterstreicht der Wegfall der Hände noch einmal den Eindruck von Ausgeliefertsein, Handlungsunfähigkeit, Gelähmtheit.

Eggers Bild ist aus meiner Sicht in seiner Aussagekraft von ungleich höherer Wirkung als »Die Lebensmüden« von Hodler. Dückers' Gedankenspiele beim Anblick der aufgereihten Personen sind ja nicht völlig von der Hand zu weisen und resultieren aus dem "inneren Bruch" im Bündnis von Realismus und Idealismus. Dückers stellt sich vor, "daß da nämlich irgendwelche, mit Charakterköpfen und Musterbärten gesegnete Ruheständler in erhabene Gewänder gesteckt und nach Drehbuch auf Plätze gewiesen wurden, um für Ideen zu posieren, die sie selbst nicht ganz durchschauten ...". (Dückers, S. 243). Diese augenzwinkernde Unterstellung steht sicher im vollen Gegensatz zu Hodlers Intentionen, der nach "starker Einheit, nach religiöser Harmonie" strebte und die "Gleichartigkeit der Menschenwesen dartun (wollte), während die heutige Zeit von deren Unterschiedlichkeit völlig eingenommen ist" (Hodler, zit. nach Dückers, S. 242). Dückers' Assoziationen wären bezüglich der »Alten« abwegig. Allerdings lassen formale Merkmale den Parallelismus- Gedanken zu. So versinnbildlicht die einheitliche zusammengesunkene Körperhaltung die Gleichartigkeit der Situation der Greise kurz vorm Ende, bzw. eine allgemein-menschliche Situation: der Tod als eine Station auf dem »ganzen Kreißlauf«, an der jeder einmal ankommen wird.

Der Krieg verhinderte, daß Egger seinen Zyklus beendete. Gewiß, er hätte nach dem Krieg weiter daran arbeiten können. Aus Äußerungen des Malers wird jedoch deutlich, daß jenes blutige Geschichtsereignis auch für ihn eine Zäsur gewesen ist, er danach eine anderer geworden war. Sein Verhältnis zu den zwei »Schmerzenskindern« beschrieb Egger als "wehmütiges Schweigen gegenseitig - eine Kälte, u. doch ist es ganz mein Fleisch und Blut" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 256). Wenn er dabei ebenso das »Wachsen an sich« beobachten konnte, kündet dies von der künstlerischen Fortentwicklung, die er in den vier Jahren genommen und erkannt hat.


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