Bereits aus dem 18. Jhd. stammt der Ausruf Jean Jacques Rousseaus 'Zurück zur Natur!'. Gesittung und Lebensart in feudalen, aber auch bürgerlichen Kreisen waren in hochgradiger Stilisierung und Künstlichkeit erstarrt. Schon das ikonographische Programm des Barockgartens, die Fortsetzung der Schloßarchitektur in der Landschaft, sollte den zivilisatorischen Sieg über die Wildnis demonstrieren. Die Geometrisierung weiter Landschaftsteile repräsentierte allgemeingültige Herrschaftsverhältnisse. Raubtiermenagerien verwiesen augenfällig auf den erfolgreichen menschlichen Kampf gegen die wilden Tiere und deren Domestikation. Von menschlicher Macht ist die Natur gezeichnet: Deiche und Dämme, Kanäle, Hecken, Mauern und Schneisen schützten vor der Kraft der Elementargewalten. Nun erwachte die Furcht vor dem Verlust der natürlichen Wurzeln des Menschen durch den zivilisatorischen Eingriff in die natürliche Unversehrtheit. Diese »Entzweiung«, die sich im Auseinanderklaffen von Freiheit und Notwendigkeit ausdrückt, wurde mit der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung zur Entfremdung. Mit der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung im 19. Jhd. wuchs die Sehnsucht nach dem »einfachen Leben«. Zivilisa\-tionsmüdigkeit und Stadtflucht entsprangen dem Mißtrauen gegenüber dem Stadtleben und der technischen Entwicklung. Mit dem unweigerlichen Eindringen des technischen Fortschritts auch in den Landschaftsbereich verschärfte sich der Grad der Trennung des Menschen von der Natur. In seiner Monographie »Worpswede« (1903) beschrieb Rainer Maria Rilke diese Entfremdung, die dazu führt, daß der Mensch sich der Natur "als große vorhandene Wirklichkeit" bewußt wird, die "erhaben gleichgültig" und im Gegensatz zur menschlichen Existenz steht. Wenn Rilke sich zu den Auswirkungen der industriell-technischen Entwicklung äußert, dann schlüpft er in die Rolle des Zauberlehrlings, der sich vor den herbeigeeilten Geistern fürchtet, weil er sie nicht wieder los wird: "Wir spielen mit dunklen Kräften, die wir mit unseren Namen nicht erfassen können, wie Kinder mit dem Feuer spielen, und es scheint einen Augenblick, als hätte alle Energie bisher ungebraucht in den Dingen gelegen, bis wir kamen, um sie auf unser flüchtiges Leben und seine Bedürfnisse anzuwenden" (zit. nach Kirsch, S. 116).
Die Sehnsucht nach vorindustrieller Lebensweise, die Flucht vor den Problemen der Industriegesellschaft bewirkten die bedeutende Popularität des Bauernromans besonders im deutschsprachigen Raum. Das dörfliche Leben in der Natur erschien als ideelle Alternative bis hin zur heilen Gegenwelt zur krisengeschüttelten, dekadenten Hochzivilisation mit ihrer mathematisch begründeten Naturwissenschaft, ihrer Technik, Industrie und großen Metropolen. Für Deutschland bedeutsam war die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern verspätete nationale und soziale Entwicklung, die noch aus den katastrophalen Auswir\-kungen des Dreißigjährigen Krieges resultierte. Bis weit ins 19. Jhd. hinein blieb der Feudaladel sozial, politisch und ideologisch die bestimmende Kraft. Zwar holte Deutschland schließlich die anderen Länder ein - 1870 erzeugte es 13 Prozent der Weltindustrieproduktion - aber ein sich in antifeudaler Entwicklung politisch und ökonomisch emanzipierter bürgerlicher Mittelstand fehlte. Außerdem wurden die Grundlagen des liberalen bürgerlichen Staates aus Frankreich durch Napoleons Truppen importiert, entwickelten sich somit nicht kontinuierlich aus eigener Tradition. Diese Hintergründe sollten mitbedacht werden, wenn weite Kreise des Bürgertums, verschreckt von der traditionsfeindlichen Macht der Industrialisierung, die scheinbar nur noch praktische Vernunft gelten ließ und die Maßstäbe der Vergangenheit ad acta legte, sich in Agrarromantik flüchtete, das Dorf als eine von weltanschaulicher und sozialer Zerrissenheit unberührte Welt idealisierte. Dabei war die alles andere als heil. Gerade im letzten Drittel des 19. Jhd. verstärkte sich in Europa dramatisch die Krise der ohnehin schon schwachen, hinter der industriellen Entwicklung zurückgebliebenen Landwirtschaft. Auf dem Lande Österreichs gab es sogar noch feudale Überreste.
Der erste deutschsprachige Bauernroman stammte aus der Schweiz von Jeremias Gotthelf (1836). Deutschlands erster Roman dieses Genres (»Der Oberhof«, 1838/9) von Karl Immermann (1796-1840) weist neben realistischer Schilderung bereits Idealisierung auf. Immermann schuf übrigens auch das Bühnenstück »Trauerspiel in Tirol« (1827) über A. Hofer, das den Beifall von Goethe und Heine fand. In den »Schwarzwälder Dorfgeschichten« des Berthold Auerbach (1812-1882), die einen riesigen Erfolg hatten, wurde noch die Annäherung von Stadt und Land für möglich gehalten. Die hohe Popularität Auerbachs zwischen 1843 und 1880 künden von der damals noch vorhandenen Utopie dieser Vermittlung. Des weiteren waren Ludwig Ganghofer (1855-1920), und die Österreicher Peter Rosegger (1843-1918) und Ludwig Anzengruber (1839-1889) sehr erfolgreiche Bauernromanautoren. Letzterer verarbeitete auch sozialkritische Einsichten und entdeckte als erster die Figur des Bauern für die österreichische Literatur. Auch deren Landsmann Adalbert Stifter (1805-1868), dessen tragisches Lebensschicksal im Freitod endete, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Der Deutsche Wilhelm von Polenz (1861-1903) schilderte in »Der Büttnerbauer« (1895) am Beispiel des Niedergangs einer wohlhabenden mittelbäuerlichen Familie in den Gründerjahren den Zusammenprall bäuerlicher Lebens- und Produktionsformen mit der gewaltigen Macht des Kapitals. Abschließend sei an die schweizerische Tradition des Bauernromans erinnert und an deren berühmten Vertreter Gottfried Keller (1819-1890), einer der bedeutendsten Dichter der Schweiz überhaupt.
Das Bauernleben tauchte in der Malerei das erste Mal in der niederländischen Kunst des 16. und 17. Jhd. auf (z. B. Adrian Brouwer). Das im 19. Jhd. beliebte Genre wies eine hochgradige Idealisierung des mühseligen Landlebens auf. Als Tiroler, Bauer oder Mönch konnte der Bürger seine Wunschträume und Phantasien ausleben, die sich im realen Alltag aufgrund von Veranlagung und Etikette verboten. Landschaftsdarstellungen gab es ebenso vor dem 19. Jhd. (z. B. Dürers Landschaftsaquarelle), nur fanden diese im »Verborgenen«, in Tage- oder Skizzenbüchern statt, als Zeichnung, in Aquarelltechnik oder mit Deckfarben angelegt. In der bildmäßigen Landschaftsmalerei komponierte man mittels zeichnerischer Naturstudien und Natureindrücken aus der Erinnerung und Phantasie (z. B. Altdorfer, Tizian, Pieter Bruegel d. Ä. ...). Die »klassische« Landschaft eines Lorrain oder Poussin war Schauplatz religiösen oder mythologischen Geschehens, Projektionsraum menschlichen Wunschtraums von fernen Epochen und Gefilden (Arkadien). Einzelne landschaftliche Elemente, durchaus zeichnerisch studiert, formieren sich zu einem erfundenen Idealzusammenhang. Eine unmittelbare Verarbeitung der realen Landschaft gab es im 17./18. Jhd. außer höchst seltenen Ausnahmen wie z. B. Velazquez nur in den Niederlanden. Im sogenannten »Ramdohr-Streit«, der sich um C. D. Friedrichs »Tetschener Altar« (1808) entfachte, sehe ich erste Anzeichen, daß sich in der Art der Landschaftsmalerei, vor allem aber in deren Verhältnis zu den anderen Teilgebieten der Malerei etwas ändern wird. Unter anderem empfand es nämlich Ramdohr als eine "wahre Anmaßung, wenn die Landschaftsmalerei sich in die Kirche schleichen und auf die Altäre kriechen will" (Ramdohr, S. 57), wurde doch damals die Landschaftsmalerei als "Flechtgewächs am großen Stamm der Kunst" (Cornelius) bewertet. Hugo von Tschudi, der Mitorganisator der Jahrhundertausstellung in der Berliner Nationalgalerie (1906) sah sogar in Friedrich einen Vorläufer der impressionistischen Malweise.
Ein Ort, der für die gewandelte künstlerische Durchdringung der Natur, deren Bildwürdigkeit und realistische Wiedergabe steht, ist Barbizon. Die »Schule von Barbizon« hatte eine fast ein Jahrhundert währende, weltweite Nachwirkung. 1821 malten die ersten Künstler im Wald von Fontainblue, an dessen Rand das berühmte Dorf liegt, cirka 60 km von Paris entfernt. Unter der ersten Malergeneration (T. Rousseau1), Corot, Daubigny, Troyon u. a.) fällt bezüglich Egger Lienz besonders Jean-Francois Millet (1814-1875) mit seinen ins Grundsätzliche und ins Sinnbildhafte gesteigerten Darstellungen aus dem bäuerlichen Alltag auf. Der Maler, wie Egger Lienz bäuerlicher Herkunft, zeichnete vor der Natur und schuf das große Gemälde im Atelier. Mit der monumentalen Bildformel seiner Figuren bezog Millet allerdings auch eine Sonderstellung in Barbizon. Bis 1848 hatte der Maler in Paris gelebt, einer Stadt mit gut entwickeltem Kunstmarkt und zahlungskräftigem Publikum. Trotzdem erfolgte jedoch der Rückzug aufs Land. Zwar war der akute Anlaß zur Flucht eine Choleraepidemie, die tiefer sitzende Ursache sicherlich die feindselige Stimmung, die Millet in Paris entgegen schlug. Die Zeitung des Salons L'Exposition konstatierte 1863: "Die Verfechter des Realismus dagegen halten ihn für einen Romantiker und Akademiekünstler, was in ihren Augen dasselbe ist". Der symbolische Gehalt seiner Bilder trennte ihn von Künstlern wie Courbet, brachte ihm jedoch die hohe Wertschätzung durch Egger Lienz. Ging es den Realisten um die sachliche Darstellung des Alltäglichen und das gleichwertige Nebeneinander von »Bemerkenswertem« und »Nebensächlichem«, verkörpert Millets »Sämann« mit seiner »michelangelesken« Ausdruckskraft eine zugleich ewige, als auch alltägliche Geste.
Ein Maler, der sich ebenfalls bäuerlichen Darstellungen widmete, war Wilhelm Leibl (1844-1900). Leibl studierte beim selben Lehrer wie Egger Lienz: bei W. v. Lindenschmit in München, der sich um die Weitergabe der Kunst Courbets engagierte. Die Angewohnheit von Leibl und seinem Kreis, mißlungene Bilder zu zerschneiden und qualitätsvolle Einzelteile als Gemälde stehen zu lassen, pflegte auch Egger Lienz. Ein weiterer interessanter Punkt: Auch hier zieht ein Maler das Landleben dem städtischen vor. 1869 von Courbet ermutigt nach Paris zu gehen, erlebte Leibl hier eine produktive Schaffenszeit. Wenige Jahre später erfolgte jedoch der Rückzug aus München aufs oberbayerische Land. Wiederum widerten das Stadtleben, insbesondere der städtische Kunstbetrieb, den Künstler derart an, daß er die Flucht ergriff. Im Falle Leibls2 kam noch der Franzosenhaß nach dem Deutsch-Französischen Krieg hinzu, vertrat er doch die Kunst des verhaßten Landes und war Freund Courbets. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, daß Künstler des 19. Jhd. von einer in der Großstadt konzentrierten, feindlich gesonnenen Gesellschaft weg in die Provinz zogen: z. B. Renoir, van Gogh, Gauguin, aber auch Literaten dieser Zeit. Auch Egger wurde in der Stadt nie heimisch. Diverse Äußerungen bezeugen sein Unbehagen und die Sehnsucht nach der dörflichen Heimat. So schrieb der Maler aus Wien seinem Vater: "Ich wünsche mich sehr wieder einmal zu Euch in das Hofzimmer; wie lebt ihr ruhig und wie hastet u. stößt man hier herum (siehe Künstlerschaft)" (zit. nach Kirschl, S. 96). Sogar die relativ kleine Stadt Weimar, in der er während seiner Lehrtätigkeit lebte, empfand Egger als »Verbannung«: "Was mich die Heimat, die Berge wünschen läßt, ist wirklich nur Heimweh nach der Welt, welcher ich örtlich jezt so weit entrückt bin ... während meiner Verbannung (gemeint ist die im Arbeitsvertrag vereinbarte Mindestlaufzeit von 3 Jahren - S. R.) werde ich in Tirol wo ein Dach für den nächsten und lezten Teil meines Lebens bauen, sodaß wir das Nest beim Heimflug schon bereit finden" (ebenda, S. 212).
Deutschlands berühmteste Künstlergemeinschaft auf dem Lande arbeitete ab 1889 in Worpswede, dem Moordorf nahe Bremen. Besonders bei Fritz Mackensen (1866-1953), neben Otto Modersohn und Hans am Ende Mitbegründer, ist ein Einfluß Millets spürbar, so z. B. in der Monumentalität seiner »Moormadonna« (»Der Säugling«, 1892). Auch hier erhält eine alltägliche Situation eine tiefergehende, symbolische Bedeutung. Die raumausfüllende Figur, die Farbigkeit und die formulierte Erdverbundenheit der Bäuerin erinnern an Millets «Sämann«. Mackensen und Egger Lienz kannten und schätzten sich. Als Egger Lienz 1912 seine Lehrtätigkeit in Weimar aufnahm, war Mackensen Akademiedirektor. Schon nach der ersten Begegnung schrieb Egger Lienz: "Mackensen ist ein sehr lieber gerader Mensch".
Leopold Graf von Kalckreuth (1855-1928) befaßte sich in einer »religiösen Periode« (1890-1901) verstärkt mit Bauernthemen (Beispiel Grabende Bäuerinnen). Seine Intentionen erinnern stark an Millet: "Die Erde, die Schöpfung Gottes, war Gottes Auftrag an die Menschheit. Seine irdische Aufgabe erfüllen, sein Pflicht tun, war zugleich Frömmigkeit. Der Bauer ist beneidenswert, weil er am unmittelbarsten der Erde dient" (Kalckreuth S. 179). 1902 stellte Kalckreuth neben Leibl im Ehrensaal der Wiener Sezession eine umfangreiche Kollektion aus, die Egger Lienz gesehen habe dürfte.
Anregungen hat Egger nach eigenen Angaben von Jules Bastien-Lepage (1848-1884) erfahren, einem Bauernmaler, der ab 1870 im Pariser Salon ausstellte. Auch das Werk Giovanni Segantinis (1858-1899), der in den Schweizer Alpen malte, war Egger Lienz bekannt. Nachhaltigen Einfluß auf Egger hatte der Bildhauer und Maler Constantin Meunier (1831-1905) mit seinen Darstellungen aus dem Arbeiter- und Bauermilieu. Der Maler kannte das Werk des Belgiers aus Abbildungen und mehreren Ausstellungen (ab 1898). Uneingeschränkte Wertschätzung genoß auch der finnische »Monumental- Maler« Axel Gallen-Kallela (1865-1931), in dessen eigentümlicher Bildwelt plastische und lineare Elemente verschmolzen sind, was sicher besonders für Eggers Schaffen der mittleren Zeit Bedeutung hatte.
München, die Residenzstadt des Königreiches Bayern, hatte sich Mitte des 19. Jhd. von einer wirtschaftlich zurückgebliebenen ländlichen Stadt zu einer modernen Großstadt entwickelt. Als Egger Lienz ab 1884 dort studiert, ist München neben Düsseldorf und Wien bedeutendste Kunstmetropole im süddeutschen Raum, was vor allem dem Engagement der bayerischen Könige im 19. Jhd. zu verdanken ist. Ab der Jahrhundertmitte fanden regelmäßig Kunstausstellungen statt, die zum internationalen Rang als Kunststadt beitrugen.
Die Stadt war ein Zentrum der Historienmalerei. Die sogenannte Münchener Schule geht auf das Wirken des Akademiedirektors Karl v. Piloty (1826-1886)3 zurück. Hochdramatische Ereignisse der Geschichte wurden theatralisch inszeniert und mit naturalistischer Detailtreue auf riesigen Formaten dargestellt. Dabei erschien die Haupthandlung in mehreren, kleinen Einzelepisoden. In einer detailreichen, oftmals romantisch gefärbten Landschaft waren zahlreiche wildbewegte Schlachtenszenen mit höchster Präzision geschildert. Kolossalgemälde dieser Art waren groß in Mode. Als in Tirol 1893 der Plan entstand, auf einem Riesenrundgemälde den Freiheitskampf 1809 (s. Anhang) darstellen zu lassen, fiel die Wahl von Fremdenverkehrsverband und Handelskammer auf den Freund von Egger Lienz, Michael Zeno Diemer (1867-1939), der aus der Piloty-Schule hervorgegangen war. 1896 wurde das über 1000 m² große Riesenrundgemälde, das die erfolgreiche dritte Bergiselschlacht bei Innsbruck zeigt, vor einem begeisterten Publikum enthüllt. Das Schlachtenpanorama ist heute noch in Innsbruck zu besichtigen. Egger Lienz nahm übrigens Anteil am Entstehungsprozeß des Bildes und unterstützte den Freund aus Studienzeiten.
Aus der Piloty-Schule kam auch Franz von Defregger (1835-1921), der ebenfalls häufig das Geschehen von 1809 aufgriff. In Eggers Gemälden auftretende Bildparallelität und bühnenmäßig reduzierter Raum sind Merkmale der Kompositionsweise Pilotys und treten ebenso teilweise in Defreggers Historienmalerei auf. Zwecks Vorstudien zu einem geplanten Zyklus über die Anführer von 1809 reiste Defregger 1877 nach Mantua, um die Hinrichtungsstätte Hofers (s. Anhang) zu besichtigen. Bei dieser Gelegenheit sah der Maler Florenz und Rom und die Werke der Hoch- und Spätrenaissance, die ihm "eine Vorstellung vom großen Stil der Historienmalerei" (nach Defregger, S. 17) vermittelten. Eine verstärkte Linearität und Flächenhaftigkeit, Formenstrenge und Theatralik kennzeichneten nun das Defreggersche Historienbild. Egger wird hier entsprechende Anregungen gefunden haben. Auch nach dem Studium stand er in enger Beziehung zu Defregger, obwohl sich auf künstlerischem Gebiet dann ihre Wege trennten.
Egger Lienz konnte jedoch nicht nur auf die Münchener Tradition der Historienmalerei zurückgreifen, sondern auch auf Neuerungen, die der Schweizer Ferdinand Hodler (1853-1918) auf diesem Gebiet einbrachte. Zwar verfiel Egger Lienz immer wieder in eine teils heftige Polemik gegen den Genfer Kollegen, doch möchte ich auf diese hauptsächlich aus verletzter Eitelkeit erfolgte Abwertung nicht weiter eingehen, sondern mich darauf konzentrieren, wo Einflüsse nicht zu übersehen sind, bzw. wo sie von den Zeitgenossen vermutet wurden. Beide Maler entwickelten Prinzipien einer gewandelten Monumentalmalerei, nur daß es Eggers »Pech« war, daß der Schweizer einen bedeutenden Zeitvorteil und entsprechendes Prestige besaß. Dadurch blieben Eggers Hoffnungen unerfüllt, als Ausnahmekünstler, dem als einziger das Attribut »monumental« zusteht, gewürdigt zu werden.
Hodlers Kartons zum beabsichtigten Marignano-Fresko (Der Rückzug bei Marignano) waren die erste große öffentliche Arbeit des Schweizers (ab 1897). Sie lösten heftige Reaktionen aus, die als »Freskenstreit« in die schweizerische Kunstgeschichte eingegangen sind, da sie als Wettbewerbsbeitrag für ein Wandbild im Waffensaal des Schweizerischen Landesmuseum Zürich favorisiert worden waren. Inhaltlich war die Verarbeitung eines landesgeschichtlich wichtigen Kriegsereignisses, die Niederlage des schweizerischen Söldnerheeres bei Marignano 1515 vorgegeben. 4 Die Jury, die nur aus Künstlern bestand, bemängelte bei den Konkurrenten Hodlers, daß deren Entwürfe der monumentale und dekorative Charakter fehle, der für eine große Wandfläche notwendig sei, und somit eher der Genremalerei zuzuordnen seien. Im auf die Entscheidung folgenden Konflikt prallten nun Auffassungen von der traditionellen Historienmalerei im Sinne der belehrenden, erzählerischen Tafelmalerei auf das Bemühen, das anstelle von Geschichtstreue eine monumentale Umsetzung sucht, "die konzentrierte Verbildlichung eines Inhaltes, der als letztlich zeitlose Essenz hinter dem individuellen Geschichtsereignis liegt" (Grisebach, S. 266). Der aus der Tradition stammenden Idealisierung steht die Vermittlung auch der "elementarsten und kreatürlichsten Härte und damit auch die Häßlichkeit eines Ereignisses" gegenüber. In der Schlacht agieren nicht mehr nur Heroen edel in aufrechter Haltung, sondern das Abstoßende, das Leiden und die Brutalität des Krieges können zum neuen Thema werden.
Das Motiv des mittleren Kartons - von der Hauptmasse der sich zurückziehenden schweizerischen Landsknechte freigestellter Kämpfer, der mit drohender Haltung und blutigem Gesicht sich noch mal zum Feind umdreht - erfährt in den Seitenteilen hinsichtlich Gebärde (rechts), bzw. Verletzung (links) eine Steigerung. Im »Fahnenträger« auf dem linken Teil des Freskentrios ist mit hoher Eindringlichkeit der Todgeweihte dargestellt. Noch einmal versucht er sich aufzurichten, aber er ist so schwer verletzt, daß er in Kürze auf dem »Feld der Ehre« verbluten wird.
Die von Hodler vorgenommenen Veränderungen seines Entwurfes betrafen nur den Mittelteil der Fresken. Diese Überarbeitungen, die auf eine stärkere Verflächigung und dadurch dekorative Vereinfachung zielten, erinnern mich daran, wie auch Egger Lienz Schritt für Schritt vom Erstentwurf über zahlreiche Zwischenstufen zur Prägnanz seines fertigen Bildes gelangte. Um die monumentale Wirkung zu realisieren und den Anforderungen des Wandbildes zu genügen, welches von weitem einprägsam und übersichtlich auf das Auge zu wirken hat, wurden Details stark zurückgenommen und die Figuren in großen, rhythmisch geordneten Umrißlinien gezeichnet. Raum und Umgebung sind einfach gehalten und auf das Notwendigste beschränkt. So betrachte man die schlichte, linear gezeichnete Landschaft oder die symbolhaft verknappte Darstellung der Stratocumulusbänke am Himmel. Als neues Element erscheint eine Geländefalte, die eine schmale obere Zone schafft. In dieser tauchen etwas kleinere Figuren auf, die bis Brusthöhe zu sehen und silhouettenhaft als Marschkolonne zusammengefaßt sind. In einem weiteren Schritt wurde die hintere Figurenreihe durch Fahnen ersetzt. Die Farben sind nahezu rein und ungebrochen, da Feinabstufungen nur in der Nahbetrachtung wirken. Der zeitgenössische Schriftsteller Franz Servaes, der Hodlers künstlerische Tätigkeit literaisch begleitete, erkannte 1904 Hodlers Leistung und den daraus resultierenden Konflikt: "Daß diese (Fresken- S. R.) einem auf genauen historischen Realismus dringendem Zeitalter nicht völlig zuzusagen vermochten, kann freilich nicht wundernehmen ... er 'erzählt' so wenig wie möglich, hingegen beschäftigt er unser Auge durch Gestalten". Servaes hielt Hodler für einen "Bahnbrecher für den malerischen Monumentalstil der Zukunft", der "mit leuchtendem Beispiel die edle Strenge und machtvolle Einfalt eines wiedergeborenen Monumentalstils" lehrt. Der Dichter setzte den Maler in eine Entwicklungslinie von der Zeit des "wirklich großen Freskostils" der italienischen (Früh-) renaissance, Michelangelo, bis hin zu Puvis de Chavannes und Klingers "Monumentalmalereien" (Servaes, zit. nach Brüschweiler, S. 69/70)5.
Einleitung Inhaltsverzeichnis Biographische Bemerkungen