In der Zeit von 1904 bis 1913 entwickelte Egger Lienz ein Raumkonzept, in dem die Diskrepanz zwischen plastisch durchgeformter Figur und zweidimensionaler Bildfläche sein künstlerisches Mittel ist. Die Personage ist in eine flache »Vordergrundbühne« hineingestellt. Diesen flachen Raum könnte man sich von zwei Parallelen eingegrenzt vorstellen: die erste würde der Bildoberfläche entsprechen, die zweite einer fiktiven Wand, die vom Maler als Abschluß des Aktionsfeldes der Figuren gesetzt wird. Die Tiefenräumlichkeit wird also dadurch reduziert, daß der Raum vorm Betrachter in geringem Abstand einfach »zugemauert« wird. Dies kann bis zur Reliefhaftigkeit führen, die Figuren erscheinen dann vor einem monochromen Bildhintergrund. Charakteristisch für Eggers Bilder dieser Periode ist weiterhin die seitliche friesartige oder symmetrische Anordnung der Figuren. In den flachen Bildraum ist eine Figurengruppe gesetzt, manchmal erscheint hinter dieser eine zweite.
Das erste Mal wurde bei Egger Lienz in den »Wallfahrern« (1905) das Prinzip der reduzierten Räumlichkeit umgesetzt. Die Wallfahrt, die Wanderung zu einem wichtigen heiligen Ort, hat als eine Form der Volksfrömmigkeit eine lange Tradition. Innerhalb der Christenheit ist die Pilgerei ein Spezifikum der Katholischen Kirche. Die Bauern auf Eggers Bild haben ihr Heiligtum erreicht. Ehrfürchtig nähern sie sich dem Kruzifix, dem grundlegenden überkonfessionellen Symbol der Christen. Lagen die Höhepunkte der Pilgerfahrten im Spätmittelalter, nachreformatorischer und Zeit des Barocks, gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. ebenfalls einen Aufschwung dieser religiös motivierten Reisen. Der marianische Charakter dieser populären Wallfahrten könnte evtl. erklären, wieso Egger Lienz in seinem Bild ursprünglich eine Madonna mit Kind als Pilgerziel konzipiert hatte. Er verwarf dies wieder, weil er Bedenken hatte, in eine genrehafte Schilderung des Weihnachtsgeschehens zu geraten, da er nicht nur die religiöse Handlung einer Gruppe von Bauern, sondern etwas allgemeineres, die Situation als Symbol für etwas, darstellen wollte: "Der Erlöser in senkrechter Harmonie mit den Figuren, in gleicher Höhe mit ihnen, die alles umfassenden Arme ausbreitend, zu ihnen mit neigendem Haupte sprechend, wirkte einheitlicher, größer, feierlicher und vor allem dekorativer" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 85). Das Kruzifix erscheint als Bindeglied der zwei Figurengruppen und wirkt als Verstärker der Vertikalität des Bildes. Die ebenso gerichteten Stützbalken gliedern die Fläche symmetrisch und die Dreiteiligkeit erinnert an ein Triptychon. Die Figuren sind seitlich friesartig angeordnet, nur der Gekreuzigte erscheint dem Betrachter frontal. "Jede einzelne Figur ... sei für sich ... ein Monument, wie Heilige auf einem Altar sollten sie für sich dastehen. Daher die Aneinanderreihung unter möglichster Vermeidung von Überschneidungen, damit sie dastehen wie Statuen und jede gut ins Auge fallend individualisiert werden kann ... auch hoffte ich, in der primitiven Anordnung der Figuren: ein zwei drei vier fünf ... die Feierlichkeit dieses ewigen Monumentes des Menschengeschlechtes" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 90). Die Figuren sind in einen schmalen Gang eingefügt, zur Vertikalität gesellt sich eine Horizontalität, vermittelt durch die Holzbretter der Wand und die Arme von Jesus.
In den »Wallfahrern« gehen real-sachliche Erklärung und malerische Behandlung eine raffinierte Verflechtung mit dem neuen Raumkonzept ein.
Eine Beeinflussung durch Hodler ist hier nicht zu übersehen. Die Entstehungszeit von Eggers Bild fällt mit der Ausstellung der Wiener Sezession 1904 zusammen. Auf dieser Schau war Hodler als Ehrengast mit 31 Werken aus öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. Die Sezessionsschau bedeutete für den Schweizer den eigentlichen Durchbruch. Neben den »Enttäuschten« und Marignano-Kartons war auch - im Bezug zu den »Wallfahrern« wichtig - »Die Wahrheit« zu sehen. Auffällig ist das ähnliche kompositorische Konzept: eine isolierte, auf der Mittelachse befindliche Figur verklammert die beiden die Seiten des Bildes bevölkernden Figurengruppen. Die Bewegung des Frauenaktes auf Hodlers Bild, besonders die ausgebreiteten Arme, erinnern an Jesus am Kreuz, Eggers Mittelfigur.
Im Herbst 1903 erwähnte Egger Lienz das erste Mal brieflich Pläne »zu einem nächsten größeren Bild«. Anfang 1904 arbeitete der Maler am Erstentwurf. Das Bild selbst entstand in den langen Sommern 1904 und 1905 im Freien, unmittelbar nach Modell: 1904 im Passeiertal, in St. Leonhard die Gruppe der Männer, ein Jahr später in Sarnthein (bei Bozen) die Frauen auf der linken Seite. Während der Arbeit an dem großen Bild parallel entstandene Modellstudien unterstreichen zusätzlich, wie wichtig dem Maler das konkrete Naturvorbild war: "Morgen kommt das Modell wieder, ein famoser Kopf mit rothen langen Bart, wie ein Apostel und doch ganz Bauer. Gestern war ich oben beim Auer ... ich werde nämlich seine Hände zum Bild verwenden, den die finden sich schwer so schön" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 90). Die Verbundenheit mit seiner Heimat und deren Geschichte wird aber auch deutlich, als Egger sich so freute, daß er in seinem Quartier in St. Leonhard das gleiche Zimmer bewohnen durfte, in dem schon Andreas Hofer logierte. Deweiteren hatte er in dem Ort einen »wunderschönen Arbeitsplatz« und geeignete Lichtverhältnisse. Das Kruzifix der Wallfahrer hat das gleiche Vorbild aus der Lienzer Pfarrkirche wie das im »Kreuz«.
Der Mittelteil des Bildes wurde übrigens als Plakat für Passionsspiele verwendet.
Das Problem, das in manchen Kaseinbildern während Eggers mittlerer Periode deutlich wird, besteht meines Erachtens darin, daß das Streben nach Monumentalität und Stilisierung auf Kosten der malerischen Qualität verlaufen ist. Die Kaseintechnik sollte, so nach Eggers Äußerungen, eine Freskohaftigkeit des Bildes ermöglichen. Nun sind aber die Anforderungen an ein Fresko, sowie die Umstände und räumlichen Gegebenheiten seiner Rezeption nun mal anders als beim Tafelbild, bei dem es ja auch auf Oberflächenreize, wie z. B. aus dem Malprozeß heraus zufällig Entstandenes ankommt. Ein übergroßes Maß an Reduktion und Stilisierung kann ein Gemälde auch »langweilig« und blutleer machen. In Eggers mittlerer Schaffenszeit schien so manche Studie aussagekräftiger, lebendiger und mindestens ebenso monumental wie das dann ausgeführte Kaseingemälde. Als Beispiel sei die Kopfstudie zum »Leben« angeführt: Der Kopf des Bauern ist in Frontalansicht gezeigt. Bei hoher Authentizität und malerischer Lebendigkeit, wie der kraftvolle Pinselschlag, das Wechselspiel verschiedener Stärken der Farbschicht, das der Studie ihren Charakter gibt, ist die monumentale Wirkung ungebrochen. Otto Pankok, der das Wintersemester 1912/13 in Weimar bei Egger Lienz studiert hat, beschrieb das Problem in Eggers mittlerem Bildwerk: "... Und dann, wie er seine Studienblätter, seine in Wahrheit guten Arbeiten, als Ateliermist zerriß und in den Papierkorb warf. 'Das Werk', das vollendete, das bis in alle Ecken verpinselte, langweilig ausgeklügelte, auf Wirkung ausgeknobelte, das war es, worauf es ihm ankam" (Pankok 1930, zit. nach Kirschl, S. 195). Auch ein weiterer Schüler Eggers, Rudolf Wacker, beklagte im Zusammenhang mit einer Skizze Eggers, daß im "großen Bild nicht dieselbe geistige Dichte" erreicht ist. Egger erkannte diese Problematik später, sein Handeln war radikal. Etliche Monumentalbilder aus dieser Zeit zerstörte er, unter anderem auch eine Kasein-Replik der »Wallfahrer«, die zerschnitten und die Leinwandstücken wiederverwendet wurden. Das »Leben« bekam später einen anderen Bildhintergrund, wobei Egger nun damit zu kämpfen hatte, daß er sich bereits in einer anderen stilistischen Phase befand und einen großen Abstand zu diesem Werk gewonnen hatte.
Im »Leben« (1911) variierte Egger Lienz sein Prinzip der reduzierten Räumlichkeit in origineller Art.
Der Zyklus der Lebensalter besitzt eine lange ikonographische Tradition, die bis in romanische Zeit zurückreicht. Den Bezug der Lebensstufen zu den Weltaltern, Planeten oder Monaten gab es schon in der mittelalterlichen Kunst. Die allegorische Darstellung des Lebens mittels der Lebensalter setzte sich in der nachmittelalterlichen Kunst fort (z. B. Hans Baldung, van Dyck, Tizian) und war auch besonders in der Romantik beliebt. Der zweite, nicht realisierte Entwurf zum »Leben« ist der interessanteste. Die Räumlichkeit verweist auf Eggers späteres Werk. Im »Haspinger« ließen sich die unterschiedlichen perspektivischen Blickwinkel der auf einer geneigten Fläche in Frontalansicht gezeigten Figuren noch real- sachlich erklären: die Männer laufen einen Abhang hinunter. Im zweiten Entwurf erscheint die Mehransichtigkeit dagegen als bewußt eingesetztes künstlerisches Mittel. Weiterhin ist an dem Entwurf bemerkenswert, wie Egger Lienz einzelne Motive in seinen Bildern immer wieder neu verwendete. Die rechte hintere Greisenfigur taucht im Entwurf der »Zeugung« und in den »Alten« wieder auf. Der Maler schien mittels einer bestimmten Körperhaltung ein für ihn dauerhaft gültiges Zeichen für eine spezielle Situation oder Gemütsverfassung gefunden zu haben. Der resignative Stimmungsgehalt der »Alten« leuchtet im zweiten Entwurf zum »Leben« das erste Mal auf. Auch die Modelle nutzte Egger Lienz für mehrere Bilder. Die Bäuerin, die als Vorbild für die einzige weibliche Figur in Entwürfen und fertigem Bild fungierte, wurde vom Maler später nochmals als eine der Personen in »Kriegsfrauen« porträtiert.
Im »Leben« bevölkern die Figuren neben- und übereinander ein Balkengerüst. Innerhalb von drei Monaten malte Egger Lienz Ende 1911 sein Bild: "5 Mannsfiguren u. ein schwangeres Weib, lebensgroß, alle beim Bau eines Balkenhauses ... Vom Knabe bis zum Greiß (90 Jähriger Mann), der in die Grube steigt." Das Gemälde sollte das Leben "in fünf Perioden (des Menschen) zur Darstellung bringen" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 187). Das Haus des Lebens, das der Mensch betritt, seine Arbeitskraft einbringt, und verschleißt, um es nach abgelaufener Zeit wieder zu verlassen. Das Bauernpaar erscheint als Begründer und Bewahrer des Herdes. Die Figuren sind in ihrer Mühsal isoliert voneinander, und auch die Schwangere vermittelt kaum etwas an Hoffnung auf künftige Generationen. Die Attribute der Bauleute und ein angedeutetes Dach verweisen darauf, daß da ein Haus gebaut wird - eigentlich eine optimistische, zukunftsträchtige Angelegenheit. Hier jedoch dominiert die Auffassung über die Last des Arbeitsalltags. Im Pariser »Journal du Peuple«, 1927, schrieb ein Rezensent auch, daß das Bild "ein Gefühl unüberwindlichen Ausgeliefertseins an das Schicksal" vermittelt (nach Kirschl, S. 669).
Das »Leben« traf mit seiner symbolhaft überhöhten Darstellung den Nerv der Zeit, insbesondere den von Schriftstellern, Philosophen und Kunstgelehrten. Das Bild wurde als Höhepunkt des Eggerschen Werkes gefeiert. Durch die literaischen Ergüsse seiner Zeitgenossen animiert, verfiel auch Egger Lienz zeitweise in einen ihm fremden, geschwollenen Sprachgebrauch in seinen Briefen. So formulierte er folgenden unglaublichen Wortschwulst: " ... ich nehme Ihre Worte u. Gedanken aus Ihrem lezten Brief in meinen Brief herüber um bestättigend dieselben zu berühren" (nach Kirschl, S. 188).
Das Bild wurde von 1912 bis 1975 41mal ausgestellt, so daß es durch die Transporte (eingerollt) stark angegriffen ist. Mehrfache Ausbesserungen waren nötig, d. h. der Erstzustand ist längst nicht mehr vorhanden.
Ab Eggers mittlerer Schaffenszeit kristallisierte sich immer deutlicher ein zweigleisiger Entwicklungsverlauf heraus. Neben der stilisierenden Monumentalmalerei verfolgte Egger Lienz als zweiten Weg eine Malerei räumlich - atmosphärischen Charakters. Beide stilistisch verschiedenen Entwicklungslinien befruchteten sich immer mehr in vorteilhafter Weise. In jedem Bereich ist etwas vom anderen mitenthalten. Im Spätwerk hat dieser Prozeß den Höhepunkt erreicht: zur Monumentalität tritt ein hohes Maß an malerischer Qualität.
1907 malte Egger Lienz »Die Bergmäher«, ein Bild, welches in Abwandlungen bis in die Zwanziger Jahre immer wieder in seinem Werk auftaucht. Stilistisch ist es ein Gegensatz zu den Werken des Monumentalstils. Die Monochromie weicht in den »Bergmähern« einem farbfrohen Akkord aus blau - braun - grün und weiß. Der Pinselduktus ist leicht und locker, die Farbe in Strichen und Tupfen aufgetragen. Der Kontrast zwischen der Plastizität der Figuren und deren Eingebundenheit in einen flächenhaften Hintergrund wurde hier zurückgenommen. Die maßstäblichen Verhältnisse der Figuren untereinander, die hintere Figur ist die kleinste, sowie die kraftvolle raumgreifende Bewegung, die die Mäher mit der Sense vollführen, suggerieren Tiefenräumlichkeit. Die Atmosphärik des Bildes lassen die Vertrautheit des Malers mit den spezifischen meteorologischen Bedingungen im Hochgebirge ahnen: Nur nach einem Kaltlufteinbruch ist der benachbarte Bergzug scheinbar so zum Greifen nahe.
Die späteren Variationen des Bildes unterscheiden sich vom Erstwerk hinsichtlich der Figurenzahl und -positionen untereinander. "Durch die größere Entfernung der einen Figur zur andern ist mehr Raum und feierliche Ruhe in das Bild gekommen" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 106).
Ein weiteres reizvolles Beispiel für die stilistische Zweigleisigkeit Eggers ist die »Bauernstube« (1920). Dazu betrachte man die expressive Raumverzerrung in den »Kriegsfrauen« (um 1920). Die Studie ist in der traditionellen Zentralperspektive gehalten. Die Schlichtheit des Bildaufbaus bildet einen harten Kontrast zur Komplexität der »großen« Kompositionen, die zu dieser Zeit nun dem Spätwerk des Malers zuzurechnen sind.
Von »Haspinger Anno Neun« zu den »Namenlosen« Inhaltsverzeichnis Eggers spätes Raumkonzept