Ich werde Eggers Bilder unter zwei Hauptaspekten betrachten: zum einen den Weg, der zu der prägnanten Räumlichkeit des Spätwerkes führt. Zum anderen möchte ich die lineare Entwicklungslogik, die für den Maler typisch war, verfolgen: "... jene bedeutsameren Zusammenhänge, bei denen sich Zukünftiges in einer Art von Akzentverschiebung ankündigt, wie etwa im »Kreuz«, wo Egger die geschlossene Masse der Vorstürmenden zum eigentlichen 'Hauptakteur' des Bildes macht, ein Ansatz, aus dem er eineinhalb Jahrzehnte später in den »Namenlosen« die letzte Konsequenz gezogen hat" (Kirschl, S. 499). »Das Kreuz« (1901) soll desweiteren als Beispiel dafür stehen, wie er besonders am Anfang von Franz Defregger beeinflußt war, sich aber bereits von dessen illustrativen Historiendarstellungen zu lösen begann. Obwohl Egger Lienz nie direkt bei Defregger studiert hat, war dieser doch ein wichtiger Lehrer in Eggers Münchener Zeit, mit dem er auch nach seinem Fortgang aus dieser Stadt in Verbindung blieb. Schon der Dreizehnjährige verehrte den renommierten Landesgenossen, was eine Bleistiftzeichnung nach einer Altartafel Defreggers dokumentiert. 1915 beschrieb Egger Lienz sein Gefühl, als er ziebzehnjährig das erste Mal den verehrten Meister in seinem Münchener Atelier besuchen durfte: "ein Gefühl, das der Katholik hat, wenn er vor dem Papste steht."
Für den jungen Künstler war Defregger ein »sicherer Hort«, was zum einen in der gemeinsamen Herkunft begründet war. Außerdem wird in Defreggers Malerei ein Milieu gezeigt, welches Egger Lienz von Kindheit an vertraut war und bei dem die Wahrheit der Schilderung bis ins kleinste Detail für ihn nachvollziehbar war. Gleichzeitig bedeutete der »Hort« aber auch Orientierungspunkt für den Studierenden in den Zeiten neuer Kunstströmungen, der »Pleinair-Sensationen jener Tage«, deren Bilder mit diesem modernen »atmosphärischen Leben« Egger Lienz aufregten und beunruhigten. Er vermißte in der neuen Kunstauffassung den "Geist ... welcher die alten Meister durchdrang und belebte", den er nur wenigen zeitgenössischen Künstlern zuerkannte: Neben Defregger auch Diez, Knaus, Lenbach und Uhde, die vorbildlich "dem alten Geist der Kunst alle Aufmerksamkeit zuwenden, ... das Leben nur als Modell benützen, um dadurch zur vollständigen Lösung ihres Stoffes zu gelangen. Diese benützen die Natur zum Behelf, andere, neue Maler als direktes Vorbild ohne eine geistige Bedeutung durch Selbständigkeit dem Werk zu verleihen" (Egger Lienz 1888, zit. nach Kirschl, S. 28). Diese Worte, deshalb zitiere ich so ausführlich, sind von grundlegender Bedeutung für Eggers gesamtes Schaffen: Auch wenn ihn einzelne Bereiche in den neuen Kunstströmungen beeinflußten, nahm er eine Gegenposition ein und stellte eine von gedanklich höherem Gehalt erfüllte Kunst entgegen. Diesen Anspruch sah er nun zu dieser Zeit bei den eben genannten Malern realisiert und nicht bei den Impressionisten, die in München inzwischen bekannt geworden waren.
Defregger richtete bei seinen Schilderungen des Tiroler Freiheitskampfes seine Aufmerksamkeit oft auf die Anführer A. Hofer und J. Speckbacher, wobei der Handlungsfluß, in einzelne erzählerische Momente aufgespalten, über Nebenschauplätze zu den Hauptprotagonisten führt. Geschichte wird nicht als objektiver Vorgang geschildert, sondern als eine Aneinanderreihung von Erbauungsexempeln, zugespitzten Situationen, in denen die moralischen Qualitäten der Figuren auf die Probe gestellt werden. Im Vergleich zum »Kreuz« (1901) ist Defreggers »Das letzte Aufgebot« (1873/74) interessant. Sicherlich hat die abstrakte Grundform der Komposition in Defreggers Bild, ein quer gelegtes S, und die flächenparallele Front der Anführer auch Egger Lienz bei seinen Entwürfen zum »Kreuz« beeinflußt. Im »Aufgebot« verdeutlicht der obere Bogen die Raumtiefe aus der weitere Wagemutige strömen. Der untere Bogen umfaßt eine weitere Figurengruppe: Trauernde und Abschiednehmende. An der Spitze der heranstürmenden Masse läuft eine vierköpfige Bauerngruppe, wild entschlossen, die Aussichtslosigkeit des Kampfes vermutlich ahnend. Die Verzweiflung und Ratlosigkeit sind eindringlich geschildert. Der Maler stellte einfühlsam menschliche Reaktionen dar. Eine hohe Individualisierung, zahlreiche Details und Tiroler Charakterstudien bereichern die Szenerie, Dramatik und moralische Wirkung kennzeichen Defreggers Bild.
Wieso bezeichnet Kirschl das »Kreuz« als »Überwindung« von Defreggers »letztem Aufgebot«? Egger Lienz verfolgte in seinem Bild ein anderes Grundanliegen, aus dem sich auch die formalen Abweichungen begründen: "Die Hauptaufgabe, welche ich mir bei diesem Thema geben möchte, ist: die höchste vanatische Begeisterung beim Anblick des Gekreuzigten, in der größten Noth des Gefechtes, auf die sich an das Kreuz drängenden Männer zu zeichnen" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 59). Während bei Defregger eine anekdotenhafte Veranschaulichung der Historie erfolgt, gerinnt bei Egger Lienz das Geschehen zu einem Moment zugespitzter und gleichgerichteter Emotionalität. Genrehafte Erzählungen auf der einen, höchste Konzentration auf einen Gedanken auf der anderen Seite. Nicht aus der Gemeinschaft herausgehobene Individuen, sondern die Masse der Figuren in ihrer gleichgerichteten Bewegung wird zum Bildgegenstand. "Die Eindringung in das 'Reinmenschliche', losgelöst vom Milieu, allein gewährt den Weg zur monumentalen Form", den Egger Lienz zu gehen beginnt. Er strebte danach, daß "ein einziger Akkord alle Erscheinung durchdringt und beherrscht, so daß auf einen einzigen Blick der Gegenstand durch die Einheit der Form zur vollen Wirkung kommt, wogegen man beim »Aufgebot«, wie in einer Erzählung, erst herumblättern muß, um alles aufzunehmen ... eine knappere zum Stil gewordene Form vertieft die Tragik, vergeistigt den Stoff, indem sie ihn das Materielle, Episodenhafte nimmt und ihn zum Symbol erhebt" (Egger Lienz, zit. nach Kirschl, S. 30/31). Diese Grundsätze, 1915 formuliert, wird der Maler im »Haspinger« und den »Namenlosen« noch konsequenter umsetzen.
Mit den Arbeiten am »Kreuz« begann Egger Lienz 1898. Für die Durchführung des Bildes schuf er sich umfangreiches Studienmaterial. Der Maler suchte sich seine Modelle in der Dorfbevölkerung, wobei er mitunter mit den Erfordernissen des bäuerlichen Arbeitsalltags in Konflikt geriet. So freute Egger Lienz sich, "ein prächtiges Modell" gefunden zu haben, da alle Arbeitsfähigen auf dem Feld gebraucht würden. Für das Kruzifix stand ein Original Pate, welches von Hans Klocker stammte. Es befand sich in der Lienzer Pfarrkirche, "eine vorzügliche gothische Arbeit" (Egger Lienz). Wie in der Gotik üblich, handelt es sich bei dem genutzten Vorbild um ein Dreinagel-Kruzifix, das Jesus als Toten zeigt, der vor der Kreuzigung gelitten hat.
Als ein weiteres Beispiel aus Eggers früherem Werk möchte ich den »Sämann« (1903) vorstellen. Die Thematik des Bildes ist für das weitere Schaffen des Malers richtungsweisend. Nach den »Namenlosen« ist das Historienbild, bzw. dessen Abwandlung für Egger Lienz passé und er wird seine großen Themen in das ihn unmittelbar umgebende vertraute Milieu verlegen. Desweiteren ist der »Sämann« Ausgangspunkt für die Beobachtung der Entwicklung des Eggerschen Raumkonzepts. 1903 war für den Maler der Widerspruch zwischen der dreidimensionalen Wirklichkeit und der Zweidimensionalität des Bildträgers als künstlerisches Problem noch nicht relevant. In seinen Werken dominierten neben den traditionellen Gesetzen der Linearperspektive die Errungenschaften des Plenairs wie Luftperspektive und Atmosphärik.
Das Raumkontinuum im »Sämann« täuscht ein in die Ferne reichendes hügeliges Feld vor. Im Vordergrund, in dem sich der Mann befindet, erfolgt die Darstellung bis ins kleinste Detail mit der gleichen Genauigkeit bei Figur und Umgebung: z. B. die Furchen der Hand, Fingernägel - Samenkörner, niedergedrückte Halme. Im Mittelgrund des Bildes beginnen die Ackerfurchen zu verschwimmen. Der rechts hinten aus dem Bild führende Feldhügel erscheint nur noch als Silhouette, ebenso wie die dort sich niederlassenden Vögel. Danach lösen sich die Formen in einer fernen verschneiten Gebirgslandschaft auf.
Für das Bild benötigte Egger Lienz entsprechende Naturvorlagen, neben dem Modell auch einen umgepflügten Acker, das heißt, einen konkreten Naturausschnitt, der der vorher entwickelten Bildidee entsprach. Ohne Zweifel ist im »Sämann« der Einfluß Millets erkennbar. Egger Lienz schätzte den Franzosen sehr: "Millet jedoch schien mir der ernsteste Künstler, der aus eigener Quelle schöpft, und dieser Künstler blieb mir bis heute verehrungsvoll" (Egger Lienz, 1912, zit. nach Kirschl, S. 700).
Die Verwurzelung des Bauern mit seiner Scholle, die Verbindung der Figur mit der Umgebung wird durch die vereinheitlichende Farbigkeit unterstützt: vielfältige Braunnuancen im kühlen bis warmen Bereich. Die Farbe der Hose gleicht der des Ackers. Diese Erdverbundenheit beschrieb Theophile Gautier, als Millets »Sämann« im Pariser Salon 1950/51 hing: "In ihrer abgetragenen Kleidung hat die Gestalt etwas Erhabenes und einen gewissen Stolz, der durch ihre energische Geste noch betont wird, und sie sieht aus, als sei sie mit der Erde gemalt, die sie besät" (Fermigier, S. 40). Vom Thema her war Millets Bild damals keine Sensation. Neu war die Art der Ausführung: bildfüllende Monumentalgestalt, kaum ein Hintergrund und anstelle einer idealisierten Gestalt die Darstellung eines herben, schroffen Typus'.
Millets Bauern sind eine Verkörperung der menschlichen Ursituation. Sein »Sämann« mahnt an den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, seit dem der Mensch selbst für seinen Unterhalt zu schuften hat: "Manchmal an Orten, wo der Boden unfruchtbar ist, siehst Du Gestalten beim Hacken oder Graben. Von Zeit zu Zeit reckt sich einer hoch und streckt den Rücken gerade und wischt sich die Stirn mit dem Handrücken. 'Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen' " (Millet, zit. nach »Zurück zur Natur«). Millets »Sämann« stürmt voller Elan übers Feld, mit kraftvoller Geste die Samen ausstreuend, eine ewige und alltägliche Handlung zugleich. Bei Egger ist der Bauer in sich gekehrt. Die Bewegung ist verhalten. Ein reifer Mann folgt da der biblischen Forderung. Ihm ist die Mühsal des Alltags anzusehen. Kirschl empfindet Egger Lienz' Bild als Hommage an Millet.
Das Gleichnis vom bösen und guten Samen hat Egger in diesem Bild noch nicht interessiert. Die Anregung dazu erfolgte erst später: 1907 durch den befreundeten Schriftsteller Otto Kunz. Zum »Sämann« entstanden 1920-23 nur wenig variierte Repliken. In diesen Variationen ist ebenfalls anstelle des Himmels eine Gebirgslandschaft in der Ferne zu sehen.
In Eggers Frühphase entstanden neben den Landschaften und Stilleben vor allem bäuerliche Genreszenen, Interieurs und Porträts. Auch der Tiroler Aufstand und dessen Anführer Hofer, Haspinger und Speckbacher wurden zum Thema von mehreren Gemälden. In diesen Zusammenhang ordnet sich auch das »Kreuz« ein.
Biographische Bemerkungen Inhaltsverzeichnis Von »Haspinger Anno Neun« zu den »Namenlosen«